Der Vorstoß der SPD-Führung zum Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe ist als Protest gegen eine gefährliche Zuspitzung militärischer Spannungen verständlich. Um nukleare Risiken aber wirklich zu reduzieren, muss sie in Bündnis- und Rüstungskontrollpolitik breiter eingebettet werden. Trotz der jüngsten negativen Erfahrungen stehen die Chancen hierfür nicht schlecht. Profitieren würde ein Neustart der Rüstungskontrolle von einer Festschreibung des machtpolitischen Status quo zwischen Russland und dem Westen. Ein Wahlsieg der Demokraten bei der US-Wahl am 3. November könnte die Zustimmung für einen solchen Kurs innerhalb des Bündnisses sichern.
Im Frühsommer 2020 kündigte die SPD-Führung an, den Vorschlag der Verteidigungsministerin zur Beschaffung eines Nachfolgers für die nuklearfähigen Tornado-Kampfbomber der Luftwaffe nicht mitzutragen und die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen in Deutschland grundsätzlich in Frage zu stellen. Dieser Vorstoß ist zunächst Ausdruck des Protests gegen eine Entwicklung, die in die grundfalsche Richtung läuft. Der Westen und Russland haben sich seit Ausbruch der Ukraine-Krise 2014 und dem Krieg im Osten des Landes in eine konfrontative Stellung eingegraben, die gefährlich hohe militärische Spannungen erzeugt. Russland und die USA scheinen an deren Eindämmung gar nicht interessiert. Stattdessen demontieren sie die bestehende Rüstungskontrollarchitektur. Ist die Verantwortung für das Ende des INF-Vertrages zum größeren Teil Russland zuzuschreiben, geht das Aus für den Open Skies-Vertrag allein auf die Kappe der Trump-Regierung. Und auch für das sich abzeichnende Ende des New START-Vertrages tragen die USA die Verantwortung.
Vor dem Hintergrund des desolaten Zustands der Rüstungskontrollverträge ist der Einspruch der SPD-Führung verständlich. Zudem richtet er sich gegen Systeme, die aufgrund ihrer Stationierung auf wenigen Flugplätzen im hypothetischen Szenario eines Krieges in Mitteleuropa ein lohnendes Ziel und damit eher einen Instabilitätsfaktor darstellen. Für die SPD-Position spricht auch, dass diese Waffen grundsätzlich verzichtbar sind. Denn die Glaubwürdigkeit der sogenannten erweiterten Abschreckung hängt nicht von den in Europa stationierten amerikanischen Nuklearwaffen ab, sondern basiert ebenso auf strategischen Waffen größerer Reichweite, etwa den U-Boot gestützten Raketen der USA und Großbritanniens. Zumindest hat die Debatte, ob strategische Waffen eine größere Abschreckungskraft besitzen, wenn sie in Europa oder außerhalb stationiert sind, nach 1990 stark an Relevanz verloren. Denn im Gegensatz zur Sowjetunion verfügt Russland nicht über eine Allianz, die dem früheren Warschauer Pakt ähnelt. Im hypothetischen Fall einer nuklearen Eskalation würde sich ein amerikanischer Atomwaffeneinsatz daher gegen russisches Territorium richten und im weiteren Verlauf einen russischen Angriff auf die USA provozieren, wäre also nicht mehr auf Europa begrenzt.
Als bloßer Protest und rein nationale Reaktion auf ein europäisches Problem wird der Einspruch der SPD-Führung dennoch verhallen. Sicherlich wäre ein nationaler Alleingang in der veränderten geopolitischen Lage vorstellbar. Allerdings wären die politischen Kosten eines solchen Kurses für das multilateral orientierte Deutschland hoch. Denn so viel ist klar: Der einseitige Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe stieße bei den meisten europäischen NATO-Partnern auf Unverständnis und zum Teil auf scharfe Kritik. Zudem würde eine rein nationale Strategie die Risiken einer nuklearen Konfrontation in Europa, denen sich Deutschland ohnehin nicht entziehen könnte, nicht reduzieren. Das abrüstungspolitische Ziel der SPD-Führung ließe sich eher erreichen, würde es auf einem alternativen Weg verfolgt. Dazu gehört, die Initiative in ein rüstungskontrollpolitisches Konzept zu gießen, das in Europa zustimmungsfähig ist und das nukleare Risiko für ganz Europa reduziert. Ein Plädoyer für die Rüstungskontrolle mag angesichts der aktuellen Krise dieses Instruments utopisch klingen. Wenn ich es dennoch versuche, dann vor dem Hintergrund von Überlegungen zur Konfliktstruktur und zu den politischen Möglichkeitshorizonten.
Krise der Rüstungskontrollverträge
- Der INF (Intermediate Range Nuclear Forces)-Vertrag von 1987 verbietet den Unterzeichnern USA und Sowjetunion bzw. Russland die Produktion und Aufstellung von landgestützten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern. Mit Verweis auf die vertragswidrige Stationierung eines russischen Marschflugkörpers haben die USA dieses Fundament europäischer Sicherheit mit Wirkung zum 2. August 2019 gekündigt.1
- Der im Februar 2011 in Kraft getretene New START-Vertrag zwischen Russland und den USA begrenzt die Anzahl der Raketen und Bomber mit strategischer Reichweite von über 5500 km sowie der darauf stationierten nuklearen Gefechtsköpfe. Wenn er nicht um fünf Jahre verlängert wird, läuft er im Februar 2021 aus.
- Der 2002 in Kraft getretene Open Skies-Vertrag erlaubt den 34 Unterzeichnerstaaten Beobachtungsflüge über dem Gebiet anderer Vertragsteilnehmer. Dadurch lassen sich Truppenbewegungen besser einschätzen und Vertrauen schaffen. Mit dem Rücktritt der USA im Mai 2020 steht der Vertrag vor dem Aus.2
Rüstungskontrolle und Konfliktlösung
Rüstungskontrolle und Konfliktstruktur sind eng verwoben. Rüstungskontrolle kann einerseits Erwartungen stabilisieren und Fehldeutungen abbauen, ist andererseits aber darauf angewiesen, dass spannungsverschärfende Positionsdifferenzen von den Konfliktparteien bearbeitet werden. Die Kriegsursachenforschung hält territoriale Positionsdifferenzen, die sich in einer Situation ungefähren Gleichgewichts machtpolitisch aufladen, für besonders brisant. Zeichnet sich die Konfliktstruktur wie im Ost-West-Konflikt durch derartige Positionsdifferenzen aus, fällt die politische Konflikttransformation schwer und der Rüstungskontrolle sind dadurch enge Grenzen gesetzt. Weist die Konfliktstruktur wie in der Phase nach 1990 kaum Positionsdifferenzen auf, wird Rüstungskontrolle weniger wichtig. Tatsächlich leerten in dieser Phase beide Seiten ihre nuklearen Arsenale durch einseitige Abrüstung schneller als es die vertragliche Rüstungskontrolle vermochte. Ihr eigentliches Potenzial entfaltet die Rüstungskontrolle im breiten Bereich zwischen beiden Polen. Hier kann sie im Rahmen einer Strategie der Konflikttransformation Misstrauen abbauen, Rüstungsdynamiken einfangen und so die politische Entspannung vorantreiben.
Ein neuer Ost-West-Konflikt?
Wie nun stellt sich die russisch-westliche Konfliktstruktur heute dar? Zwar tun Russland und der Westen so, als würden sie den Ost-West-Konflikt noch einmal auf die Bühne bringen. Beide beschwören die alten Bedrohungsszenarien und Abschreckungskonzepte in nur leicht angepasstem Gewand noch einmal herauf. Statt raumgreifende Offensiven des Warschauer Paktes mit nuklearen Drohungen abzuschrecken, gelte es heute, eine Okkupation der baltischen Staaten zu verhindern, die Russland mit Hilfe eines demonstrativen nuklearen Ersteinsatzes durchsetzen könnte. Tatsächlich fehlt dem neuen „Ost-West-Konflikt“ (fast) alles, was seinen Vorgänger auszeichnete: die militärische, technologische und ökonomische Konkurrenzfähigkeit, der starke ideologische Gegensatz und selbst eine scharfe territoriale Dimension. Zumindest spricht trotz der manchmal ambivalenten Signale aus Moskau wenig dafür, dass die Annexion der Krim der Vorbote einer Okkupation der baltischen Staaten sein könnte. Und auch die neue russische Interventionsbereitschaft – etwa in Syrien – schafft keine scharfe territoriale Positionsdifferenz mit dem Westen. Was am neuen Konflikt an den alten erinnert, sind die gefährlich hohen militärischen Spannungen. Sie scheinen aber von den Konfliktgegenständen abgekoppelt zu sein und eher von den Frustrationen und Enttäuschungen zu stammen, die beide Seiten im Prozess einer gescheiterten Assoziation – Stichwort gesamteuropäische Friedensordnung – erfahren haben.3 In einer solchen Situation kann Rüstungskontrolle dann viel bewirken, wenn sie in eine politische Strategie der Konflikttransformation eingebettet ist. Ausgangspunkt einer solchen Strategie wäre ähnlich wie zu Beginn der Entspannungspolitik in den 1960er Jahren eine Anerkennung des machtpolitischen Status quo. Dazu gehören ein Verzicht auf eine abermalige NATO-Erweiterung ebenso wie Garantien für das Recht der ehemaligen Sowjetrepubliken auf politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung.
Die Bausteine einer neuen Rüstungskontrollarchitektur für Europa liegen auf dem Tisch. Die Verlängerung des New START-Vertrages zur Begrenzung strategischer Waffen wäre ein erster Schritt. Ein zweiter wäre die Überführung der von Deutschland initiierten Sondierungen über einen Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle in tatsächliche Verhandlungen. Ein regionales, auf Europa bezogenes Stationierungsverbot für landgestützte Mittelstreckenraketen ist ein weiterer Baustein. Er könnte zwar nicht verhindern, dass in einer Krise solche Systeme aus dem asiatischen Teil Russlands und künftig den USA nach Europa zugeführt werden. Er würde auch das deutliche russische Übergewicht bei den Nuklearwaffen kürzerer Reichweite nicht aufheben, wäre aber ein Element der Vertrauensbildung. Ein weitergehendes regionales Stationierungsverbot für alle land- und luftgestützten Nuklearwaffen böte ebenfalls mehr Vor- als Nachteile. In diesem Zusammenhang würde sich die Frage der nuklearen Teilhabe erledigen. Auch der überfällige Diskurs innerhalb der NATO über eine nukleare Abschreckungsdoktrin ließe sich in einer solchen Situation eher führen. Angesichts der himmelweiten ökonomischen Überlegenheit des Westens, die dauerhafte militärische Dominanz verspricht, könnte Deutschland überzeugend argumentieren, dass eine deutliche Begrenzung nuklearer Optionen einschließlich eines Nicht-Ersteinsatzversprechens westliche Sicherheit stärkt statt schwächt.4
Wäre ein Neustart der Rüstungskontrolle politisch machbar?
Angesichts der russisch-westlichen Konfliktstruktur steht es also um die Chance eines Neustarts der Rüstungskontrolle nicht schlecht. Aber wäre ein solcher Weg im Bündnis politisch durchsetzbar? Im Kreis der europäischen Partner würde ein solcher Kurs insbesondere bei einigen osteuropäischen Staaten auf Skepsis stoßen, aber auch viel Unterstützung finden – nicht zuletzt bei der französischen Regierung. Angesichts dieser Ausgangslage sollte sich Deutschland nicht auf eine Vermittlerrolle beschränken, sondern Führung übernehmen und für Rüstungskontrolle als Bestandteil einer Entspannungspolitik 2.0 werben. Von großer Bedeutung auch für die Positionierung der Osteuropäer bleiben die USA. Mit der gegenwärtigen amerikanischen Regierung ist rüstungskontrollpolitisch kein Staat zu machen. Ihre Politik wird dominiert von prinzipiellen Rüstungskontrollgegnern wie John Bolton oder aktuell Marshall Billingslea, Trumps Sondergesandtem für Rüstungskontrolle. Das entscheidende Datum ist daher der 3. November. Eine demokratische Regierung wird zwar aufgrund der seit 2014 veränderten Situation nicht direkt an Obamas Agenda zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt anknüpfen. Mit ihr würde aber eine ganz andere Orientierung Rüstungskontrolle gestalten und neue Möglichkeiten eröffnen. Deutschland sollte bereits jetzt Kontakte zum Team von Joe Biden knüpfen und sich für einen Neustart der Rüstungskontrolle sowie eine Minimierung der erweiterten Abschreckung einsetzen. Geht die Wahl am 3. November anders aus, wird über die Risiken und Vorteile einer europäischen Verteidigung ernsthaft nachzudenken sein. Die Zukunft der nuklearen Teilhabe wäre dann nur eine Frage von vielen.
Download (pdf): Dembinski, Matthias, (2020): Entspannungspolitik 2.0: Rüstungskontrolle als der bessere Weg zur Reduzierung atomarer Risiken, PRIF Spotlight 10/2020, Frankfurt/M.
Der Gegenstandpunkt: Hach, Sascha (2020): Mitgehangen, mitgefangen? Argumente, aus der nuklearen Teilhabe auszusteigen, PRIF Spotlight 6/2020, Frankfurt/M.
Hier im PRIF Blog oder zum Download (pdf).