§§ 53 der Strafprozessordnung (StPO)
§§ 53 der Strafprozessordnung (StPO) | Quelle: eigene Darstellung

Ausstiegsberatung, Verschwiegenheit, Zeugnisverweigerungsrecht – und unsere schlechte nationale Vertrauenslage

Ausstiegsbegleitung und Distanzierung bedürfen einer vollends vertraulichen, sozialtherapeutischen Arbeitsbeziehung. Nur institutions-externe, vorzüglich nichtstaatliche Mentor*innen können sie bereitstellen – Mentor*innen, die keiner amtlichen Berichtspflicht unterliegen. Zwingend erforderlich hierfür ist ein Zeugnisverweigerungsrecht für Ausstiegsbegleiter*innen. Denn jede öffentliche Zeugenaussage stellt die Glaubwürdigkeit der gesamten bundesweiten Ausstiegsarbeit in Frage. Extremismusprävention braucht aber vor allem gesellschaftliches Binnen-Vertrauen. Jedoch die derzeitige nationale Vertrauenslage ist schlecht – besonders zwischen Behörden und Zivilgesellschaft. Der Verfassungsschutz überprüft „Demokratie leben!“, Hessen erwog eine anlasslose Sicherheitsüberprüfung, Baden-Württemberg wickelt die zivilgesellschaftlichen Ausstiegsbegleiter*innen ab und stellt weisungspflichtige Bedienstete dafür ein. Es muss noch viel miteinander geredet werden.

Dass Ausstiegsbegleitung, sogenannte Deradikalisierung und die Hinführung zu einer prosozialen Lebensführung, nur auf der Grundlage einer vertrauensvollen, auf Respekt basierenden und wechselseitigen Arbeitsbeziehung des Mentoring erfolgen kann – das scheint heute erfreulicherweise in aller Munde zu sein. Vor fünfzehn, zwanzig Jahren stand dies noch stark im Zweifel. „Mit diesen Monstern kann man doch nicht reden“, so entfuhr es empörten Mitarbeitenden von zuständigen Ministerien. Auch viele der Kolleg*innen aus der politischen Bildung und dem gesellschaftlichen Engagement konnten sich nicht recht vorstellen, mit einem hasserfüllten, neo-nazistischen Wiederholungsgewalttäter respektvoll und beziehungsoffen zu arbeiten. Heute weiß man um die Notwendigkeit einer vertrauensbildenden, sozialtherapeutischen Beziehung, ohne die eine gewaltförmig-extremistische und abhängigkeitslogische Lebensweise nicht verlassen werden kann.

Externalität der Ausstiegsbegleiter*innen und Verzicht auf Berichtspflicht

Welche Voraussetzungen und Bedingungen aber gewährleistet sein müssen, damit eine vertrauensvolle, auf Respekt basierende und sozialtherapeutische Mentor*innen-Beziehung überhaupt entstehen kann, das ist uns nicht immer vollends bewusst. Was z.B. oft nicht leicht eingesehen wird, betrifft die Arbeit innerhalb geschlossener Institutionen (Strafvollzug, Bewährung, Schule, Jugendhilfe etc.). Ausstiegsbegleitung, sog. Deradikalisierung sowie Distanzierung müssen nämlich stets von institutions-externen – und vorzüglich von nicht-staatlichen – Mitwirkenden geleistet werden. Denn nur diese von außen kommenden zivilgesellschaftlichen Kolleg*innen können eine maximale Vertrauenswürdigkeit erzielen, unterliegen keiner amtlichen Berichtspflicht und können von einer unabhängigen Qualitätssicherung durch Supervision und verbandlicher, Kriterien-gestützter Intervision begleitet werden.

Jedoch nur die fortschrittlichsten Ausstiegsbegleitungen in Deutschland können von sich sagen: „Es gibt keine Berichte ad personam, nur anonymisierte Falldarstellungen. Meine direkten Vorgesetzten oder Bezugsämter kennen keine Klient*innen-Namen und erhalten lediglich statistische Angaben. Sie vertrauen darauf, dass ich meine Arbeit so gut wie möglich mache, und stellen externe Supervision bereit“ (mündliche Auskunft von Stefan Sass, Ausstiegsberatung Rechtsextremismus).

Alles andere wäre eigentlich auch widersinnig! Denn wer sich aus freien Stücken in einen Ausstiegsprozess begibt, hat wahrlich Anspruch darauf, dass über ihn*sie keine Daten gesammelt und Berichte gefertigt werden – und Freiwilligkeit, bzw. die gemeinsam von Klient*in und Berater*in aufgebaute Bereitwilligkeit, ist hierfür genauso unerlässlich wie Vertraulichkeit. Deshalb sind richterliche Verweisungen eher ungünstig.

Vertraulichkeit / Verschwiegenheitspflicht

An diesem Punkt wird aber eines schlagartig klar: Vertrauen heißt immer auch Vertraulichkeit! Ohne Vertraulichkeit und Verschwiegenheit sind keine vollgültigen und aufrichtigen Ausstiegsprozesse möglich. Denn es geht hierbei immer um zutiefst Persönliches: Weltanschauung, Religion, die eigene Lebensgeschichte; Momente der Schwäche, Scham, Verletzung, und Momente von Hass und Gewalt – und es geht um Rechtsbrüche.

Das ist im Übrigen bei uns ‚Normalen‘ nicht anders. Wenn wir persönlichen Veränderungsbedarf spüren und deshalb Therapie oder Coaching suchen, dann werden wir sicherlich nicht die*den Assistentin* unseres Arbeitsgebers beauftragen. Denn man will völlig offen sein und sich auf Vertraulichkeit verlassen können.

Ausstiegsbegleiter*innen brauchen zwingend das Zeugnisverweigerungsrecht

Ein betrüblicher Präzedenzfall in Norddeutschland führt weiterhin vor Augen, dass Vertrauen und Vertraulichkeit immer auch ein  Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht beinhalten sollten. Weil Ausstiegsberatung Vertrauenssache ist – wie jegliche Form der psycho- oder sozialtherapeutischen Beratung – und weil sie deshalb nur in einem wirklich geschützten Rahmen erfolgen kann, muss den Ausstiegsbegleiter*innen mit zwingender Notwendigkeit das Zeugnisverweigerungsrecht zugestanden werden. Wie wollte man einer* Klient*in auch sagen müssen: „Hier ist alles vertraulich. Aber wenn mich ein Gericht in den Zeugenstand ruft, muss ich alles auspacken“?

Die Brisanz dessen ist immens, zumal Gerichtsverfahren meist öffentlich sind. Somit steht bei jeder öffentlichen Zeugenberufung ein*er Ausstiegsbegleiter*in über ihre* Klient*innen im Grunde stets auch die Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit der gesamten bundesdeutschen Ausstiegsbegleitung und Beratung im Bereich Extremismusprävention auf dem Spiel.

Trotzdem wurden Anfang diesen Jahres Ausstiegsbegleiter*innen  aus dem Bereich religiös begründeter Extremismus in den Zeugenstand gerufen – was, nebenbei bemerkt, in 30 Jahren Ausstieg aus dem Rechtsextremismus nicht geschehen ist. Es hieß, man habe sich alles reiflich überlegt; sogar die Klient*innen seien einverstanden; überhaupt wäre diese Maßnahme nur gut gemeint und im Sinne der Beklagten.

Bekanntlich aber ist gut gemeint oft das Gegenteil von gut gemacht. Denn eine Ausstiegsbegleitung, die von Klient*innen, Anwält*innen oder Gerichten instrumentalisiert werden kann, um vor Gericht einen guten Eindruck zu machen, ist genauso kompromittiert wie eine Ausstiegsbegleitung, die im Zweifelsfall vor Gericht „auspacken“ und belasten muss. Wer also wirklich Ausstiegberatung haben möchte, muss das Zeugnisverweigerungsrecht erteilen, das Therapeut*innen oder Rechtsanwält*innen innehaben (aber z.B. auch Wirtschaftsprüfer*innen und Steuerberater*innen) – alles andere ist unaufrichtig.

Gesellschaftliche Resilienz – und die derzeitige nationale Vertrauenslage

Dies alles geht einher mit einem dritten und umfassendsten Schlaglicht in Sachen Vertrauen, Vertraulichkeit und Ausstiegsprozesse: Ausstiegsarbeit – und Extremismusprävention überhaupt – wird nur dort wirklich gelingen können, wo wir uns als Gesellschaft gegenseitig trauen. Dieses gesellschaftliche Binnen-Vertrauen – besonders zwischen Behörden und Vereinen – ist eine essenzielle Grundvoraussetzung der viel beschworenen gesellschaftlichen Resilienz gegen Extremismus.

Die politischen Bekenntnisse, gerade auf internationalem Parkett, sind längst da. Man will sich vor der EU, der UN und den versierteren skandinavischen Ländern nicht schämen müssen. So haben Regierungsvertreter*inne beim letztjährigen Präventions-Gipfel der deutschen G-20 Präsidentschaft trefflich resümiert: „Wir sollten das gegenseitige Vertrauen zwischen den Beteiligten im Bereich der Präventionsarbeit sicherstellen. Regierungen und Organisationen der Zivilgesellschaft sollten sich auf gemeinsame Ziele einigen“ – und vertrauensvoll-abgegrenzt zusammenwirken. Denn Extremismusprävention braucht vor allen Dingen eine gute nationale Vertrauenslage.

Die gesetzliche Erteilung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Ausstiegsberater*innen ist also nicht nur aus sachlichen Gründen zwingend geboten. Als binnen-gesellschaftlicher Vertrauenserweises würde sie auch unsere soziale Resilienz nachhaltig stärken.

Die derzeitige nationale Vertrauenslage

Um unsere nationale Vertrauenslage ist es aber derzeit nicht besonders gut bestellt. So kam kürzlich ans Licht, dass in den letzten drei Jahren 50 Projektträger von „Demokratie leben!“ jeweils im Antragstellungszeitraum „anlassbezogen sicherheitsüberprüft“ wurden, eventuell deshalb, weil man das Gefühl hatte, dass da neue Träger sind, die man noch nicht kennt. Dies ist freilich zu verurteilen – zumal es sich ja mit jenen Sicherheitsüberprüfungen bekanntermaßen so verhält, dass sie eigentlich gar nichts bringen. Denn nur ein intelligent eingerichtetes Verfahren der Fachsupervision und verbandlich gestützten, kollegialen Intervision kann Qualität und Sicherheit gewährleisten. Eine zukunftsweisende Innovation, die die Qualitätssicherung zusätzlich erhöhen würde, stellt die Methodik der triangulären Ausstiegsberatung durch Tandemteams dar, die voraussichtlich im österreichischen Pilotprojekt erprobt werden wird.

Ferner wurde noch vor wenigen Monaten – allerdings in dankenswert unverdeckter Weise – in Hessen die anlasslose geheimdienstliche Sicherheitsüberprüfung der in der Extremismusprävention tätigen Kolleg*innen betrieben. Dies konnte einvernehmlich abgewendet werden – was sehr zu begrüßen ist. Jedoch scheint die ultimative Konsequenz unserer momentanen nationalen Misstrauenslage derzeit in Baden-Württemberg gezogen zu werden. Denn das dortige Innenministerium scheint sich entschlossen zu haben, die Finanzierung der zivilgesellschaftlichen Ausstiegsbegleiter*innen einzustellen und anstatt dessen gut zwei Dutzend staatliche Bedienstete neu einzustellen, die diese Arbeit weisungsgebunden und berichtspflichtig durchführen sollen. Die unveräußerliche Vertraulichkeit der Prozesse wird sehr darunter leiden; und die stets virulenten Begehrlichkeiten der Geheimdienste, die Ausstiegswillige eventuell für sich einnehmen wollen, würde nur schwerlich abzuweisen sein.

Kritisch müssen daher sicherlich auch die bereits bestehenden Programme von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen betrachtet werden, wo Ausstiegs- und Präventionsprojekte z.T. bei Verfassungsschutzämtern angebunden sind. Als gutes Gegenbeispiel kann derzeit auch Österreich gelten, das die Entwicklung des nationalen Ausstiegsprogramms gänzlich den zivilgesellschaftlichen Trägern überantwortet hat.

Angesichts von dergleichen Aktivitäten auf Landeseben ist mehr denn je die gesetzliche Erteilung des Zeugnisverweigerungsrechts für Ausstiegsberater*innen geboten – aus sachlichen und gesellschaftlichen Gründen. Denn ansonsten kommt unsere nationale Vertrauenslage und gesellschaftliche Resilienz zu Schaden.

Empfehlungen für die unmittelbare Zukunft

Weil aber aufgrund der derzeit eher schlechten nationalen Vertrauenslage nicht gleich übermorgen mit einem Zeugnisverweigerungsrecht zu rechnen sein wird, soll hier noch folgender Hinweis gegeben werden. Nach Rechtsauffassung von Prof. Dr. Klaus Riekenbrauk, Hochschule Düsseldorf, ist Ausstiegsberater*innen stets die grundsätzliche Möglichkeit gegeben, sich mit Verweis auf das SGB VIII dagegen zu verwehren, im Zeugenstand über Klient*innen Auskünfte geben zu müssen. Denn nach § 64/65 dürfen die Leistung der Jugendhilfe „nicht in Frage gestellt werden“, was jedoch bei einer Zeugenstandberufung einer* Ausstiegsbegleiter*in unfehlbar passieren würde.

Es mag also ratsam erscheinen, diesen Sachverhalt zu nutzen; und ein geeigneter Verband mag sich entschließen, für dergleichen Zwangslagen eine entsprechende Rechtshilfe bereitzustellen, an die sich betroffene Ausstiegsbegleiter*innen wenden können.

Während dies aber geschieht, müssen wir uns ganz intensiv um unsere nationale Vertrauenslage kümmern. Denn ohne eine Stärkung des gesellschaftlichen Binnen-Vertrauens – in dem besonders staatliche Behörde und zivilgesellschaftliche Akteure in vertrauensvoll-abgegrenzter Weise zusammenwirken – wird auch das teuerste nationale Präventionsprogramm weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben. Es muss noch viel miteinander geredet werden.

Tobias Meilicke ist seit 2015 Projektleiter von PROvention, der Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein und seit November 2016 auch im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft „religiös begründeter Extremismus“. Darüber hinaus ist er zertifizierter Anti-Gewalt- und Deeskalationstrainer.
Harald Weilnböck
Dr. habil. Harald Weilnböck ist Mitbegründer von Cultures Interactive e. V. und leitete im Radicalisation Awareness Network (RAN) der Europäischen Kommission die Arbeitsgruppe RAN Derad („Deradicalisation and Exit Interventions“). Als Praktiker und Praxisforscher sowie Psychotherapeut ist er im Feld der intensivpädagogischen Extremismus-Prävention und Distanzierung tätig.

Tobias Meilicke

Tobias Meilicke ist seit 2015 Projektleiter von PROvention, der Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein und seit November 2016 auch im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft „religiös begründeter Extremismus“. Darüber hinaus ist er zertifizierter Anti-Gewalt- und Deeskalationstrainer.

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