Die Wahlen in Bosnien und Herzegowina Anfang Oktober und die anhaltenden Bemühungen, den Namensstreit um Mazedonien beizulegen, haben die internationale Aufmerksamkeit auf Südosteuropa gelenkt. PRIF Spotlights zu diesen Themen stießen auch in den beschriebenen Ländern auf Interesse. Dieser Blog-Beitrag dokumentiert ein Interview für Al Jazeera Balkans, die Fragen stellte Harun Cero.
Ist Bosnien und Herzegowina sowohl institutionell als auch sozial irreversibel geteilt?
Die Verfassungsordnung auf Basis des Dayton-Friedensabkommens von 1995 teilt Bosnien und Herzegowina einerseits entlang der Linien der beiden Entitäten (Föderation und Republika Srpska), andererseits entlang der Linien der drei konstitutiven Völker (Bosniaken, Serben, Kroaten). Die Verfassung lässt sich mit den Mehrheiten ändern, wie sie Artikel X.1 der Verfassung vorsieht. Prinzipiell wäre es damit möglich, die institutionelle Teilung zu revidieren. Praktisch aber zeichnen sich dafür angesichts des anhaltenden Streits über den gemeinsamen Staat und dessen Ordnung keine ausreichenden Mehrheiten ab.
Die Verfassung grundlegend zu ändern, scheint einfach im Vergleich zum Vorhaben, die gesellschaftlichen Spaltungen aufzuheben. Nicht nur die Verfassung, die den Konflikt zwischen den konstitutiven Völkern fortschreibt, trägt zu den gesellschaftlichen Spaltungen bei. Das Bildungssystem, die Religionsgemeinschaften, die versuchte Auftrennung der einst gemeinsamen Sprache und die geringeren Möglichkeiten, mit Angehörigen der anderen Völker in Kontakt zu treten, lassen sich als weitere Treiber der Spaltungen ansehen. Gleichwohl sind gesellschaftliche Spaltungen nicht auf ewig in Stein gehauen. Unterschiede können sich abschleifen, und bestehende Unterschiede können an Relevanz verlieren. Daher ist es heute für viele Menschen in der Mitte Europas kaum nachvollziehbar, dass ihre Vorfahren vor 400-500 Jahren Krieg um Religion führten.
Wie kommentieren Sie die Wahl Milorad Dodiks in die Präsidentschaft von Bosnien und Herzegowina, eines Politikers, der die Institutionen von Bosnien und Herzegowina nicht anerkennt und dessen Aktionen nicht zur Stabilität des Landes beitragen?
Dodik hat deutlich mehr Stimmen als alle seine Gegenkandidaten zusammen erhalten. Dieses Ergebnis kann darauf deuten, dass die von ihm vertretene Programmatik und der von ihm verkörperte Politikstil die größte Unterstützung der Wähler in der Republika Srpska hat. Es kann aber auch zeigen, dass der Druck auf die Wähler die beabsichtigte Wirkung erzielte. Dodik hatte ja den Anhängern der Opposition in der Republika Srpska Konsequenzen angedroht, etwa den Verlust des Arbeitsplatzes.
Seit 2006 hat sich Dodik mit radikaler Rhetorik gegen Bosnien und Herzegowina profiliert. Immer wieder bezeichnete er Bosnien und Herzegowina als „unmöglichen Staat“ und drohte mit der Abspaltung der Republika Srpska. Gerne schlägt er einen Umgangston an, den viele Lehrer ihren Schülern nicht durchgehen lassen würden. In den letzten Jahren fiel Dodik mit Drohungen gegen Journalisten und einer zunehmend autokratischen Politik auf. Mit seinen Ehrungen verurteilter Kriegsverbrecher verstörte er die Opfer und auch viele Menschen im Ausland. Vor diesem Hintergrund ist der Wahlerfolg Dodiks keine gute Nachricht für Demokratie und Stabilität in Bosnien und Herzegowina. Nun bleibt jedoch abzuwarten, ob er im neuen Amt den Kurs der permanenten Provokation fortsetzt oder zu einer konstruktiveren Politik findet. Die Option der Konfrontation scheint wahrscheinlicher, gerade nach der Wahl von Željko Komšić in die Präsidentschaft, mit dem er im Wahlkampf verbal massiv zusammengestoßen war. Doch möchte ich die konstruktivere Option nicht ausschließen.
Die Wahl von Željko Komšić zum kroatischen Mitglied der Präsidentschaft von Bosnien und Herzegowina wurde von der Regierung, aber auch von Teilen der Opposition in Kroatien kritisiert, und er wurde in einigen bosnischen Gemeinden zur persona non grata erklärt. Wie kommentieren Sie seine Wahl, sind die Kritiken gerechtfertigt?
Komšić wurde legal in die Präsidentschaft gewählt. Viele Kroaten aber halten diese Wahl für illegitim, weil sie meinen, nicht kroatische, sondern mehrheitlich bosniakische Wähler hätten über den kroatischen Sitz in der Präsidentschaft entschieden. Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina ist stark von dem Gedanken der Machtteilung geprägt. Sie soll verhindern, dass ein Volk einfach die anderen Völker überstimmen kann. Dass ein Volk über die Repräsentanten eines anderen entscheidet, widerspricht dem Geist der Machtteilung. Aufgrund der demographischen Verhältnisse sind die Kroaten der Gefahr einer solchen Fremdbestimmung am stärksten ausgesetzt. Nach den Wahlen 2006 und 2010 musste Komšić wissen, wie sehr seine Kandidatur und Wahl viele Kroaten provozieren würden. Er musste auch damit rechnen, dass dies die HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft), die mit Abstand wichtigste kroatische Partei in Bosnien und Herzegowina, zu einer Politik jenseits der gewählten Institutionen bewegen könnte. All das rechtfertigt aber nicht, nun die Verfassungsordnung zu verlassen. Übrigens stellt sich die HDZ mit einer solchen Politik aus Sicht ihrer Gegner als Gefahr für Bosnien und Herzegowina dar. Damit können diese Gegner die Kandidatur von Komšić als eine Art Notwehr verstehen. Auch besitzt die HDZ kein Monopol der Definition, wer Kroate ist. Kurz: Ich sehe hier Fehler auf beiden Seiten.
Der HDZ-Chef, Dragan Čović, hat die Regierungsbildung in einzelnen Kantonen und auf der Ebene der Föderation von der Änderung des Wahlgesetzes abhängig gemacht, während Mitglieder der HDZ Sitzungen der Regierung boykottieren. Wie könnte sich die Politik der HDZ auf das politische Klima in Bosnien und Herzegowina auswirken?
Es ist ein wiederkehrendes Muster, dass die HDZ auf eine Politik außerhalb der legalen und gewählten politischen Institutionen setzt, wenn sie ihre Macht verloren hat oder einen Machtverlust fürchtet. So geschah es in Form der sogenannten Kroatischen Selbstverwaltung nach den Wahlen 2000 und mit der Wiederbelebung der Kroatischen Nationalversammlung Jahre später. Nach den jüngsten Wahlen könnte sich das fortsetzen.
Eine Politik jenseits der verfassungsmäßigen Strukturen wirkt sich selten positiv auf das politische Klima eines Landes aus. Eine solche Politik würde die Vorbehalte von Dodik und anderen serbischen Politikern nähren, die Bosnien und Herzegowina gerne als dysfunktionalen oder unmöglichen Staat und die Föderation als die schlechter arbeitende Entität darstellen. Sie würde auch das Misstrauen vertiefen, das bosniakische und multi-ethnische Parteien gegenüber den Absichten der wichtigsten kroatischen Kraft in Bosnien und Herzegowina hegen. Insgesamt droht mal wieder eine institutionelle Krise. Immerhin hat sich Bosnien und Herzegowina bislang in seiner Krisenanfälligkeit als stabil erwiesen.
Wie kommentieren Sie, dass sich Zagreb, angeführt von der dortigen HDZ, in die inneren Angelegenheiten von Bosnien und Herzegowina einmischt, obwohl das im Rahmen des Friedensabkommens von Dayton nicht erlaubt sein sollte?
Neben der Republik Bosnien und Herzegowina haben die Bundesrepublik Jugoslawien und die Republik Kroatien die elf Artikel des Rahmenabkommens von Dayton unterzeichnet. Bisweilen sprechen sich diese Nachbarstaaten von Bosnien und Herzegowina den Status von Garantiemächten zu. Ich bin kein Völkerrechtler, aber meines Erachtens obliegt die Aufgabe der Garantie des Abkommens allein internationalen Organisationen oder eigens eingerichteten Institutionen wie dem Büro des Hohen Repräsentanten. Die Einmischung Zagrebs dürfte bei vielen bosniakischen und multi-ethnischen Parteien die Vorbehalte gegen von vielen Kroaten gewünschte Änderungen der Verfassungsordnung verstärken. Viele Unterstützer von Komšić dürften sich aufgrund dieser Einmischung bestätigt sehen. Sie wollen nicht, dass Zagreb über den kroatischen Sitz der Präsidentschaft in Sarajevo mitregiert.
Mazedonien hat noch einen langen Weg vor sich, um die Namensänderung zu vollziehen, obwohl das mazedonische Parlament im Einklang mit dem Abkommen von Prespa beschlossen hat, den Prozess der Verfassungsänderung einzuleiten. Was würde die endgültige Änderung des Namens dieses Landes für die Region des westlichen Balkans bedeuten?
Die Namensänderung zu „Republik Nord-Mazedonien“ würde dem Staat Chancen auf Beitritt zur NATO und EU eröffnen. Doch gerade bis zur Mitgliedschaft in der EU wäre noch ein langer Weg zu bewältigen. All das ist allgemein bekannt, daher möchte ich einen anderen Punkt hervorheben. Die Namensänderung würde einen mutigen Kompromiss zur sensiblen Frage der nationalen und sprachlichen Identität umsetzen. Ein solcher Kompromiss ist in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien die Ausnahme, nicht die Regel. Bei vielen Konflikten zeigen die Beteiligten fehlende Bereitschaft und Fähigkeit zum Kompromiss. Sie setzen auf Abgrenzung und Aufstachelung und zumindest rhetorisch auf Konfrontation. Wird das Abkommen zur Regelung des Namensstreits umgesetzt und wirkt sich das innenpolitisch für die Regierung von Zaev nicht nachteilig aus, dann wäre das ein starkes Zeichen dafür, dass ein anderer Politikstil als der derzeit vorherrschende erfolgreich sein kann. Das könnte in anderen Ländern Kräfte stärken, die eine mehr auf Kompromiss ausgerichtete Politik fordern.
Dieser Text geht zurück auf ein Interview von Harun Cero mit Thorsten Gromes für Al Jazeera Balkans. Für den vorliegenden Blog-Beitrag wurde das Interview gekürzt, leicht umgestellt und um erläuternde Passagen für die deutsche Leserschaft ergänzt. Wir danken für die Genehmigung, das Interview mit diesem Blog zweitveröffentlichen zu dürfen.