Religion ist kompliziert: Besonders im öffentlichen Diskurs wird „dem Islam“ häufig ein inhärenter Hang zu religiös begründeter Gewalt und Terrorismus unterstellt. In der wissenschaftlichen Debatte jedoch ist der tatsächliche Einfluss von Ideologien, und als solche muss eine politisierte Form von z.B. Islam verstanden werden, auf (De-)Radikalisierungsprozesse durchaus umstritten. Bisweilen wird sogar der Ausschluss von Religion aus Präventions- und besonders Deradikalisierungsmaßnahmen gefordert. Die Erfahrungen der Praxis sprechen allerdings für einen Einbezug von Religion in die Extremismusprävention, ohne ihren Stellenwert zu überhöhen.
Seit dem Erstarken des internationalen Dschihadismus und seiner Personifizierung durch den sogenannten IS ist das Thema Religion in der öffentlichen Debatte scheinbar untrennbar mit den Themenkomplexen Extremismus und Terrorismus verknüpft (Eine kritische Betrachtung des Extremismusbegriffs und seiner Verwendung findet sich hier). Angesichts dessen ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Ruf nach dem Einbezug „islamischer Autoritäten“ oder Islam-/Muslimverbänden in die Extremismusprävention im Sinne einer Verantwortung für das soziale Gemeinwohl immer lauter wird. Selbstverständlich haben solche Verbände und/oder Autoritäten, wie alle DemokratInnen, die Verantwortung klar für Toleranz und unser auf der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung basierendes, pluralistisches Gesellschaftsmodell einzustehen. Es führt allerdings am Ziel vorbei, MuslimInnen weltweit eine Art Kollektivversagen bzw. -schuld am derzeitigen Zustand vorzuwerfen. Die Verantwortung für ein so komplexes Themenfeld wie Extremismus und politische Gewalt in Form von Terrorismus darf nicht allein bei jenen gesucht werden, die außer der bloßen Bezeichnung ihrer Religionszugehörigkeit, mit dschihadistischem Terrorismus nichts gemein haben. Eine solche, auf Stereotypisierung basierende Entgegnung auf diesen Terrorismus ist nichts Anderes als die von ExtremistInnen erwünschte Reaktion. Die Gesellschaft bestätigt so in der Wahrnehmung marginalisierter Gruppen scheinbar altbekannte extremistische Narrative, wie z.B. einen imaginierten „Kreuzzug des Westens“ gegen „die Muslime“. Des weiteren impliziert eine solche Verantwortungsverschiebung eine Schuldbefreiung der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, die sich in der Konsequenz als vermeintlich frei von jeglicher Verantwortung für solche Phänomene wähnt. Dementsprechend findet sich in der Praxis häufig die Annahme, Religion müsse im Ganzen aus der Arbeit herausgehalten werden. Ein Ausschluss von Religion aus der Präventionsarbeit unterschlägt jedoch zugleich die Funktionalitäten, die sie sowohl für die Leben der betroffenen Personen, als auch die Praxis der Deradikalisierung und Extremismusprävention einnehmen kann.
Zur Rolle von Religion – verschiedene Ansätze in der Extremismusprävention
Basierend auf der hochkomplexen Ausgangslage haben sich im Laufe der Jahre verschiedene Ansätze bzgl. des Themas „Rolle von Religion in der Extremismusprävention“ herauskristallisiert. Eine sehr bekannte und besonders häufig aus den Reihen diverser Islamverbände geforderte Herangehensweise behauptet, das Islamverständnis der ExtremistInnen sei schlicht falsch, die Personen seien entsprechend fehlgeleitet. Daraus resultiert die Vorstellung, die Lösung des Problems läge darin, den Personen lediglich religiöses Wissen und den „richtigen“ Islam beizubringen. AnhängerInnen autoritärer Extremismen soll durch den Verweis auf alternative Autoritäten bei der Abkehr vom Extremismus geholfen werden. Ein Paradox, das nicht zur Aufarbeitung der ursächlichen Faktoren, die an einer Öffnung für extremistisches Gedankengut mitwirkten, beiträgt.
Ein anderer Pol der Debatte erwächst u.a. aus Kreisen der klassischen Gewaltprävention. So existiert bisweilen die Annahme, Religion sei ein zu vernachlässigender Faktor in Prozessen, die zuallererst psychopathologischer bzw. auf sozialen Deprivationsprozessen beruhender Natur seien. Deshalb müsse die Aufgabe von Gewalt- und Extremismuspräventionspraxis eine rein psychologische bzw. sozialpädagogische sein, keinesfalls aber eine theologische. Prävention und Sozialpädagogik sollen dann unter Ausschluss der Berücksichtigung spiritueller/religiöser Bedürfnisse stattfinden.
Problematische Trends der Extremismusprävention
Beide Annahmen greifen zu kurz. Tatsächlich liegen den stets individuell verlaufenden Radikalisierungsprozessen immer unterschiedliche Kombinationen von zutiefst persönlichen Faktoren, Problemlagen und Erfahrungswerten ((wahrgenommene) Diskriminierung, relative Deprivation, u.a.) zugrunde. Diese unterstützen in der Konsequenz häufig die Entwicklung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen bzw. einen Hang zu subjektiver Schuldverschiebung, dichotomen Denkmustern, u.v.m.
Die erste Ansicht, es sei effektive Extremismusprävention religiös-extremistischen Personen zu erklären, dass ihre religiösen Grundannahmen falsch seien und lediglich auf eine alternative, vermeintlich „gute“ Autorität zu verweisen, unterschlägt diese sozialen wie persönlichen Faktoren in fahrlässiger Art und Weise. Gute Extremismusprävention befasst sich ohnehin nicht mit kategorischen Einordnungen in „richtig“ oder „falsch“ und darauf basierender Konfrontation von KlientInnen, da eine solche Herangehensweise dem Ziel der Arbeit widersprechen würde:
Für Extremismen anfällige Personen sollten im besten Falle mit Fähigkeiten zu kritischem Denken, Hinterfragen und Reflexion sowie Ambiguitätstoleranz ausgestattet werden, welche es ihnen ermöglichen, auch in Krisenmomenten ohne die Anleitung einer Autoritätsperson selbstständig resilient zu bleiben sowie sicher und selbstbestimmt (re-)agieren zu können. Die Grundannahme von Extremismusprävention als primär sozialpädagogischer Arbeit erscheint somit unabdingbar.
Aufgrund dessen religiöse Themen prinzipiell aus der sozialpädagogischen Arbeit herauszuhalten, zeugt jedoch von einem verkürzten Verständnis der Problemlage. Menschen, die religiöse Bedürfnisse äußern, darf es nicht versagt werden, diese zu thematisieren. Eine solche Negierung von Bedürfnissen und Fragestellungen sollte insbesondere nicht im Rahmen von Beratungssituationen geschehen, die eine Stabilisierung der persönlichen Lebenswelt der Betroffenen zum Ziel haben. Die Begründung, nicht die adäquate Bezugsperson für religiöse Themen zu sein, darf nicht gelten. Dies führt leicht zu unbedachten Verweisen an externe, selbsttitulierte religiöse ExpertInnen, deren Einfluss auf sich auf einer religiösen Sinnsuche befindliche Personen immens sein kann; und das nicht ausschließlich im positiven Sinne.
Auch vorgeblich religiös oder ideologisch motivierte Argumentationsweisen dürfen in der Beratungsarbeit nicht ignoriert werden. Zwar ist Beratungsarbeit im Idealfall keine politische oder religiöse Debatte. Doch die Grundkenntnis von Gedanken- und Argumentationsmustern des Gegenübers kann die Beratung, in ihrem Verlauf u.a. durch kritisches Hinterfragen im Gegensatz zur Akzeptanz von Dogmen, durchaus positiv beeinflussen.
Verantwortungsvolle Extremismusprävention als umfassende sozialpädagogische Praxis
Um der Herausforderung gerecht zu werden, müssen mehrere Ansätze miteinander verknüpft werden. Hierbei gilt es drei Dinge zu vermeiden: Erstens darf nicht dem Impuls nachgegeben werden, Radikalisierungsprozesse durch bloßes theologisches Umdenken aushebeln zu wollen. Dies vernachlässigt die einer kognitiven Öffnung zugrundeliegenden Mechanismen und die daraus resultierende Tatsache, dass Extremismusprävention und Deradikalisierungsarbeit immer sozialpädagogische Arbeit sein müssen. Zweitens zeigt die praktische Erfahrung, dass religiöse Bedürfnisse in der sozialpädagogischen Arbeit nicht ignoriert werden und somit schlimmstenfalls zur Aufarbeitung durch extremistische Akteure brachliegen sollten. Und drittens darf dem vorherigen Punkt zum Trotze dennoch keine Überbewertung von Religion und Ideologie als für eine Radikalisierung allein verantwortlichen und damit für eine Deradikalisierung wichtigsten Faktoren geschehen.
Extremismen und damit verknüpfte Radikalisierungsprozesse sind inhärenter Teil aller historischen und gegenwärtigen Gesellschaftsmodelle und Wertegemeinschaften und nicht Alleinstellungsmerkmal einer einzigen religiösen Strömung und ihrer Ausprägungen wie bspw. der salafiyya. Die Hinwendung zu Ideologien unterschiedlichster Couleur, z.B. als Antwort auf (spirituelle) Sinnsuchen oder im Rahmen von gruppendynamischen Prozessen, geschieht bei weitem nicht nur in einem religiösen oder gar islamischen Kontext, wie die altbekannten Phänomene Links- und v.a. Rechtsextremismus verdeutlichen.
Da Radikalisierung in Richtung gewaltbefürwortender Ideologien nicht das Problem einer spezifischen Religion oder einer einzelnen Ideologie, sondern ein zutiefst menschliches Problem zu sein scheint, stehen die sozialpädagogischen Kompetenzen von BeraterInnen im Mittelpunkt der Extremismuspräventionsarbeit. Da gleichzeitig allerdings nicht bestritten werden kann, dass, abhängig von der jeweiligen Ideologie, das Weltbild von KlientInnen von unterschiedlichen Annahmen und Werten bedingt ist, wäre eine Erweiterung des klassisch-pädagogischen Kompetenzbereiches der BeraterInnen wünschenswert. Ohne diese Erweiterung können die persönlichen Fragestellungen und Problemlagen der rat- und/oder Hilfesuchenden KlientInnen nicht vollumfänglich betrachtet werden. Um in diesem Kontext angemessen arbeiten zu können, bedürfen sie neben ihrer allgemeinen methodischen Befähigung mindestens historischer, kultureller und gesellschaftlicher Grundkenntnisse zu dem jeweiligen Phänomenbereich, auf den sich ihre Arbeit bezieht. Diese können, individuell angepasst, als Gesprächseinstieg, Glaubwürdigkeitsnachweis o.ä. mit der/dem KlientIn notwendig sein, um darauf aufbauend pädagogisch fundiert mit den Personen arbeiten zu können. Im Falle eines religiös begründeten Extremismus betreffen diese Grundkenntnisse u.a. die Religion. Und im Falle des islamistischen oder gar dschihadistischen Extremismus eben eine der mannigfaltigen Auslegungsarten islamischer Lehre. Dies gilt auch dann, wenn religiös-ideologische Faktoren nur oberflächliche Teilelemente der Radikalisierung einer Person ausmachen.
Primärpräventive Maßnahmen
Eine besonders interessante Wirkung entfaltet die Beschäftigung mit „dem Islam“ übrigens in der Primärprävention. Schulworkshops zum Thema zeigen bspw. häufig Wirkungen auch jenseits der Prävention gegen religiös begründeten Extremismus. Bezeichnenderweise berichten Lehrkräfte von eigenen Erkenntnismomenten angesichts der Erläuterungen zur Diversität muslimischen Lebens, die deutlich von einschlägigen Vorurteilen zu „dem“ Islam und „den“ Muslimen abweichen. Eine solche Art der Sensibilisierung von Lehrenden sowie sonstiger MultiplikatorInnen führt zur Vermeidung von Stereotypisierungen und wirkt dadurch präventiv nicht nur durch die vermiedene Diskriminierung muslimischer SchülerInnen. Auch Mechanismen z.B. rechtspopulistischer Denkweisen werden durch die Aufklärungsarbeit für nichtmuslimisches Lehrpersonal und/oder MitschülerInnen effektiv ausgehebelt.
Fazit
In jeder Extremismusform kommt der zugehörigen Ideologie eine spezifische, identitätsstiftende Funktion zu. In einem religiös begründeten Extremismus übernimmt eine ideologisierte Form der Religion diese Rolle. Religion ist folglich inhärenter Bestandteil der Denk-, Auslegungs- und Argumentationsmuster der diesem Extremismus anhängigen Personen und wird entsprechend von diesen Menschen thematisiert. Bei manchen Menschen bildet eine echte religiöse Suche die Grundlage hierfür, während Religion von manch anderen erst als nachträgliches Rechtfertigungsmuster herangezogen wird. Dass der tatsächlichen kognitiven Öffnung, die zu einer Radikalisierung führt allerdings stets eine Vielzahl hochpersönlicher Faktoren in gewissen Konstellationen zugrunde liegt, ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit folgt daraus, dass Religion und religiöse Argumentation nicht als herausragendes und schon gar nicht einziges Werkzeug gelten dürfen. Dies vernachlässigt die persönlichen Problemlagen der KlientInnen. Entsprechend kann der Verweis an alternative religiöse Autoritäten niemals sinnvolle Extremismusprävention sein. Nichtsdestotrotz dient die Religion häufig der Deutung und Einordnung ebendieser Problemstellungen. Wo dies der Fall ist, hat die Praxis der Extremismusprävention eine Verantwortung, diese Funktionalität nicht zu ignorieren. Wie besprochen, bieten sich hier oft Anknüpfungspunkte sei es im Hinblick auf Gesprächseinstiege, Authentizitätsnachweise, o.ä. Dies gilt allerdings nur dann, wenn BeraterInnen neben ihrer unabdinglichen pädagogischen Kompetenzen auch religionsspezifische Grundkenntnisse besitzen und diese entsprechend einzusetzen wissen. Besitzen sie diese nicht, können wertvolle Chancen zur daran anschließenden pädagogischen Arbeit und dem Dialog mit KlientInnen verpasst werden. Die Rolle von Religion in der praktischen Deradikalisierung und Extremismusprävention ist dementsprechend komplex. Bei individueller oder situationsbedingter Bedarfslage und unter der Voraussetzung eines maßvollen Umgangs sollte sie Einzug in die praktische Arbeit finden dürfen. Jedoch nicht in allein verantwortlicher und exponierter Funktion.