Radikalisierung und Extremismus sowie deren Prävention werden seit einigen Jahren in Deutschland kontrovers diskutiert. Obgleich die Phänomene in diesem Themenfeld sehr unterschiedlich sein können, besteht doch Einigkeit, dass es sich bei Radikalisierung um einen Prozess handelt, der auf vielen verschiedenen Ebenen stattfindet und durch unterschiedlichste Faktoren begünstigt oder verhindert werden kann. Unsere Blogserie „Gesellschaft Extrem“ hat Einblicke in das Themenfeld geboten und sowohl Perspektiven aus der Wissenschaft, als auch aus der Praxis anhand von 21 Beiträgen erläutert. Nicht nur einzeln, sondern auch im Gesamtbild der Serie stellen die Beiträge sehr prägnant die vielseitigen Herausforderungen von individueller und kollektiver Radikalisierung sowie von Radikalisierungsprävention und deren Evaluation dar.
Im Rahmen des vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung koordinierten Forschungsprojekts „Gesellschaft Extrem: Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland“ begann im April 2018 die gleichnamige Blogserie, in der die Autorinnen und Autoren die Erkenntnisse ihrer Arbeit anhand von kurzen Blogbeiträgen erläuterten. Wir freuen uns, dass wir so viele spannende Beiträge aus dem komplexen Themenfeld der Radikalisierungsforschung und der Präventionspraxis präsentieren konnten, die zu einem sachlichen und informierten Umgang mit der Thematik beitragen und Handlungsoptionen für die verschiedenen Ebenen und Tätigkeitsbereiche aufzeigen.
Radikalisierung – Ein umstrittener Begriff und ein komplexer Prozess
Die Beiträge stellen das Extremismuskonzept in Frage, da dieses den Prozesscharakter von Radikalisierungen ausklammert und jene Zielgruppen, die für Radikalisierung in die Gewalt anfällig sind, als Feinde definiert und somit den Zugang zu ihnen für Präventionsbestrebungen verhindert. Auch diskutieren sie die konzeptionelle Erfassung des umstrittenen Radikalisierungsbegriffs und plädieren für einen weit gefassten Begriff, der über die derzeitige Krisenwahrnehmung unserer Zeit hinausgeht und somit auch ein umfassenderes Präventionsverständnis mit sich bringt, zeigen aber auch, dass bei sicherheitsrelevanten Fragen ein enger Radikalisierungsbegriff Stigmatisierungen vorbeugen kann. Die Beiträge der Blogserie gehen auf verschiedene Analyseebenen ein und beschreiben den Einfluss von Persönlichkeit und Umwelt in Radikalisierungsprozessen vor dem Hintergrund von Fragen der Sozialisation und der Identitätsentwicklung. Gleichzeitig kritisieren sie eine zu einfache Pathologisierung von Radikalisierung, die der Komplexität derselben nicht gerecht wird und gesellschaftliche Verantwortung in den Hintergrund rückt.
Anhand von der Analyse ideologischer Gemeinsamkeiten verschiedener, einander feindlich eingestellter Gruppen zeigen die Beiträge, inwiefern auf dieser gemeinsamen Basis auch Übertritte zu anderen Gruppen stattfinden. Diese Perspektive auf die gemeinsamen Elemente der Ideologien ist auch für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit relevant, da sie Möglichkeiten zum Dialog bietet. Auch die gesamtgesellschaftliche Dimension von Radikalisierungsprozessen wurde in den Beiträgen analysiert vor dem Hintergrund der Frage, ob sich die deutsche Gesellschaft radikalisiert sowie im Hinblick auf ethnisch-nationalistische Mobilmachung in der Migrationsgesellschaft und im gegenwärtigen rechtspopulistischen Umgang mit religiöser Vielfalt und der religiösen Prägung Deutschlands. Auch die Online-Dimension von Radikalisierung wurde diskutiert vor dem Hintergrund der Verschränkung von realweltlichen Radikalisierungsprozessen mit der Online-Welt sowie hinsichtlich der Herausforderungen und Chancen von online platzierten Gegennarrativen. Das Themenfeld der Radikalisierungsforschung erstreckt sich demnach über viele Ebenen, die wenn sie gemeinsam adressiert werden, ein umfassenderes Gesamtbild der komplexen Radikalisierungsprozesse und ihrem jeweiligen Kontext ergeben.
Vielseitige Herausforderungen der Präventions- und Distanzierungsarbeit
Ähnlich wie bei der Analyse von Radikalisierungsprozessen besteht auch das Handlungsfeld der Präventions- und Distanzierungsarbeit aus unterschiedlichsten Analyse- und Handlungsebenen. Auf Bundes- und Länderebene sowie auf zivilgesellschaftlicher und kommunaler Ebene werden Maßnahmen verschiedenster Präventions- und De-Radikalisierungsprogramme umgesetzt und gefördert. Vor diesem Hintergrund stellen die Beiträge der Blogserie die Frage, ob Prävention dort stattfindet, wo Bedarf herrscht und fordern eine stärkere Einbindung von Regelakteuren, die bereits Zugänge zu den Zielgruppen haben. Des Weiteren weisen sie darauf hin, dass für gelingende Präventionsarbeit die Zusammenarbeit verschiedenster Akteure notwendig ist, sei es im Hinblick auf zivilgesellschaftliche Präventionsbestrebungen oder in der kommunalen Präventionsarbeit. Zudem ist mit der vermehrten Förderung von Präventionsprogrammen auch zu definieren, wo Prävention beginnen und enden sollte, was aber eine Kontroverse darstellt, da beispielsweise mit sicherheitspolitischem und pädagogischem Handeln verschiedene Handlungsebenen und Förderstrukturen durch einseitige Schwerpunktsetzungen in Konflikte geraten können. Diese Diskussionen reichen bis in das Handlungsfeld der Evaluation von Radikalisierungsprävention hinein und gehen einher mit Debatten um die Messung der Wirksamkeit von Ansätzen in der Extremismusprävention und der Forderung nach gegenstandsangemessener Evaluationsforschung. Darüber hinaus stellen die verschiedenen Beiträge zur Blogserie „Gesellschaft Extrem“ auch die Beziehungsarbeit als wichtigen Faktor in Präventions- und Distanzierungsprozessen dar, weswegen einerseits die Einbindung von Religion in der Radikalisierungsprävention von Bedeutung sein kann, während andererseits Verschwiegenheit und Zeugnisverweigerungsrecht die Grundlage einer sozialtherapeutischen Arbeitsbeziehung bieten. Die vertrauliche Beziehungsarbeit sollte jedoch einem vielseitigen Austausch zwischen Behörden und Zivilgesellschaft nicht im Wege stehen, denn Präventions- und Distanzierungsarbeit bleiben eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. In diesem Sinne ist Präventionsarbeit eine gesellschaftliche Verantwortung, die vielseitige Aufgaben und den Bedarf nach zuständigkeitsübergreifenden Gesprächen mit sich bringt.
Abschluss und Ausblick
Die Bandbreite der in den Blogbeiträgen angesprochenen Themen verdeutlicht nicht nur die Komplexität des Themenfeldes, sondern auch den Bedarf, die unterschiedlichen Perspektiven und Analyseebenen zusammenzubringen. Darüber hinaus ist eine noch stärkere Vernetzung der verschiedenen Akteurinnen und Akteure im Forschungs- und Handlungsfeld Radikalisierung und Prävention oder De-Radikalisierung anzustreben, denn nur über das Wissen zu den komplexen Radikalisierungsverläufen und über die Zusammenarbeit verschiedener Zuständigkeitsbereiche sowie den regen Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis wird das Handlungsfeld als gesamtgesellschaftliche Herausforderung ernst genommen.
Mit dieser Serie haben wir bereits einen kleinen Einblick geben können in die Arbeit des Forschungsprojekts „Gesellschaft Extrem: Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland“, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Ab Herbst 2018 werden dann die weiterführenden Ergebnisse des Projekts in verschiedenen Formaten vorliegen. Die Blogserie hat auch für sich in pointierten und zugänglichen Beiträgen kleine Akzente setzen können in den Debatten rund um Radikalisierung und ihrer Prävention und wird voraussichtlich in der Veröffentlichung eines eBooks münden.