In der aktuellen Berichterstattung über die COVID-19-Pandemie wird kaum über das Schicksal derer berichtet, für die die Coronaviruskrise eine dramatische Verschlechterung ihrer ohnehin oft hoffnungslosen Situation bringen könnte: Vertriebene, Flüchtlinge, Menschen in Konfliktgebieten. Die Corona-Krise droht existierende humanitäre Krisen zu verschärfen. Ein Blick auf Nordsyrien zeigt, dass ein COVID-19-Ausbruch in solchen Situationen einerseits neue Konflikte hervorrufen und andererseits die COVID-19-Pandemie selbst weiter verschärfen könnte.
Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen warnen vor den Konsequenzen der Corona-Pandemie für Menschen in Konfliktgebieten und insbesondere all jene, die sich in Flüchtlingslagern drängen, sei es in Bangladesch, Kenia, dem Nahen Osten oder Europa. Viele Flüchtlinge und Binnenvertriebene weltweit haben schlechten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Ein dramatisches Beispiel ist die Lage für die Menschen in der nordwestsyrischen Proviz Idlib, der sogenannten „letzten Rebellenhochburg“ im Bürgerkriegsland Syrien, die als eine Art riesiges Flüchtlingslager gesehen werden kann. Sollte sich das Virus dort ausbreiten, droht eine Katastrophe. Das gilt auch für andere Flüchtlingslager in Syrien und den angrenzenden Staaten.
Konfliktlage um Idlib vorübergehend beruhigt…
Nach einigen Monaten der Ruhe infolge einer zwischen der Türkei und Russland vereinbarten Deeskalationszone in der an die Türkei angrenzenden, nordwestsyrischen Provinz Idlib, hatten syrische und russische Truppen im Sommer 2019 wieder Angriffe auf das Gebiet gestartet. Ab September 2019 nahm das Ausmaß der Bombardierungen deutlich zu. Im Dezember starteten syrische Truppen eine Bodenoffensive in Idlib. Hunderttausende flohen vor der Gewalt.
Ende Februar 2020 wurden mindestens 33 türkische Soldaten in Idlib durch einen syrischen Luftangriff getötet. Die Türkei reagierte mit einer Militäroffensive und griff großangelegte syrische Stellungen an. Diese letzte Eskalation des Konfliktes wurde am 6. März 2020 mit einem zwischen Russland und der Türkei vereinbarten Waffenstillstand zunächst gestoppt. Gemeinsame türkisch-russische Patrouillen sollen die Vereinbarung überwachen.
…humanitäre Notlage im Nordwesten Syriens jedoch bereits ohne COVID-19 immens
Nach Angaben des UN Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten OCHA wirken sich die Folgen des Konflikts ohnehin schon verheerend auf die ca. vier Millionen Menschen aus, die in der Provinz Idlib und insbesondere im Norden der angrenzenden Provinz Aleppo leben. Seit der Eskalation der Gewalt Anfang Dezember sind fast eine Million Menschen, ein Drittel der gesamten Zivilbevölkerung in Idlib, vor der Gewalt geflohen. Mehr als die Hälfte davon ist innerhalb der Provinz in Richtung der türkischen Grenze geflohen, wo bereits hunderttausende Vertriebene lebten. Über 400.000 Menschen flohen in die Provinz Aleppo. Die Menschen leben dicht gedrängt auf engem Raum und die humanitäre Krise ist hinsichtlich der Unterbringung, Nahrungs- und Wasserversorgung, Hygiene und sanitären Versorgung prekär. Vier von fünf Menschen, die seit dem 1. Dezember vertrieben wurden, sind Frauen und Kinder, deren Gesundheit und individuelle Sicherheit akut gefährdet ist. Humanitäre Organisationen vor Ort berichten von Ausbeutungs- und Missbrauchsfällen vertriebener Frauen und Mädchen durch Männer in Machtpositionen, die ihnen materielle Unterstützung versprechen. OCHA berichtet von Frauen, die aufgrund mangelnder Privatsphäre mehrere Wochen lang nicht geduscht haben und die Nahrungsaufnahme verweigern, aus Angst davor, auf die Toilette zu gehen.
Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus ist somit kaum realisierbar: Die Menschen leben auf engstem Raum und die Möglichkeiten zur persönlichen Hygiene sind sehr beschränkt. Hinzu kommt, dass nach Jahren des Krieges die Gesundheitsversorgung in der Provinz Idlib schlecht und überlastet ist. Die wiederholten Angriffe der russischen und syrischen Luftwaffe auf Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen haben die Situation weiter verschärft. Die WHO berichtet alleine für den Nordwesten Syriens von 337 Angriffen auf die Gesundheitsversorgung zwischen 2016 und 2019. Die Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates kritisiert diese mutmaßlich systematischen Angriffe als Kriegsverbrechen.
Ein COVID-19-Ausbruch hätte eine Katastrophe in der Katastrophe zur Folge
Eine Ausbreitung von COVID-19 könnte für Idlib, Syrien, die ganze Region und nicht zuletzt für Europa eine weitere humanitäre Krise, wenn nicht gar eine Katastrophe bedeuten. Ärzte vor Ort gehen im Falle einer Ausbreitung des Virus von über 100.000 Toten in Idlib aus. Auch Ärzte ohne Grenzen warnt davor, dass sich die Krankheit sehr schnell ausbreiten könnte. In Folge des Konfliktes konnte in der Provinz bislang kaum auf den Virus getestet werden. Es fehlt an Schutzausrüstung für medizinisches Personal und es ist lediglich eine sehr kleine Anzahl an Beatmungsgeräten verfügbar. Hinzu kommt, dass Hei‘at Tahrir al-Sham (HTS), die dschihadistische Gruppierung, die große Teile der Provinz Idlib kontrolliert, bislang offenbar kaum Maßnahmen ergriffen hat, um sich auf eine Ausbreitung des Virus vorzubereiten.
Noch ist nicht klar, ob das Virus bereits grassiert. Die häufig zitierte Johns Hopkins Universität zählt bislang 10 COVID-19-Fälle in ganz Syrien (Stand 31.3.2020). In den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten Syriens wurden bereits Maßnahmen zur Beschränkung der Verbreitung des Virus ergriffen: Hierzu gehören abendliche Ausgangsperren, die Schließung von Schulen und Universitäten bis Anfang April sowie das Verbot von Versammlungen und Freitagsgebeten und die Schließung aller Restaurants, Bars und Clubs im Land. Laut OCHA und WHO haben bereits einige humanitäre Organisationen ihre Aktivitäten aus Gründen der Infektionsprävention reduziert – zum Nachteil der Millionen von Menschen, die in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Wie die Lage tatsächlich aussieht ist unklar. Zumal die syrische Regierung keinen Zugang zu den und von der HTS kontrollierten Gebiete im Nordwesten hat und es somit auch keine Fallzahlen gibt. Erste Berichte über Patienten in Syrien, die möglicherweise COVID-19-Symptome aufweisen gibt es seit Wochen.
Wenn es zu einem COVID-19-Ausburch kommt, wäre dies eine weitere Katastrophe für die Notleidenden in Idlib und den angrenzenden Gebieten. Gefährdet sind neben der kriegsgebeutelten Bevölkerung auch große Flüchtlingslager außerhalb Idlibs, wie etwa das Lager al-Hol im Nordosten Syriens, in dem Angehörige von IS-Kämpfern untergebracht sind und in dem die medizinische Versorgungslage ebenfalls desolat ist.
Ein Ausbruch hätte auch über Nordsyrien hinaus schwerwiegende Folgen: Die Infektion könnte durch die vielen dort präsenten Akteure – russische Armee, iranische Revolutionsgarden, türkische Truppen, humanitäre Helfer und die US-Truppen im Nordosten Syriens – sowohl eingeschleppt, als auch von dort weiter verbreitet werden. Dies könnte zunächst für den Rest Syriens zum Problem werden, da die Gesundheitsversorgung dort bereits vor dem Krieg allenfalls mittelmäßig war und inzwischen nur noch rund die Hälfte der Krankenhäuser im Land funktionsfähig ist. Es wäre nicht das erste Mal: Im Laufe des Bürgerkrieges kam es bereits zu mehreren größeren Ausbrüchen von Infektionskrankheiten. Insbesondere Masern, Polio und Leishmaniose haben sich in Syrien selbst, aber auch in den Nachbarstaaten ausgebreitet.
Ein COVID-19-Ausbruch in Nordsyrien könnte für die Türkei zum Problem werden, insbesondere in den an Syrien angrenzenden Regionen und durch eine Verbreitung der Krankheit über aus dem Einsatz zurückkehrende Truppen. Außerdem könnten Diplomatinnen und Diplomaten, Gesundheitsfachleute oder humanitäre Helfer den Virus in andere Staaten der Region tragen und auch weltweit verbreiten.
Ein Ausbruch könnte neue Gewalt provozieren
Die Pandemie könnte zudem negative Konsequenzen für diejenigen Menschen haben, die bereits vor dem Krieg aus Syrien geflüchtet sind. Eine Studie der University of New Mexico deutet z.B. darauf hin, dass Ausbrüche infektiöser Krankheiten das Risiko des Auftretens gewaltsamer Konflikte steigern: Der mit Epidemien verbundene psychische Stress in einer Gesellschaft könne dazu führen, dass ethnozentrische und xenophobe Strömungen gestärkt werden und Abgrenzungen gegenüber anderen Gruppen, auch innerhalb des eigenen Staates, verfestigt werden. Es besteht die Gefahr, dass sich Teile der Bevölkerung in den aufnehmenden Staaten aus Angst vor dem Virus gegen die Flüchtlinge aus Syrien wenden.
Eine Verbreitung des Virus könnte zudem eine neue Eskalation des Konfliktes zur Folge haben. Einerseits in der Provinz Idlib selbst: Die dort bestehende Waffenruhe hält zwar, ist jedoch fragil. Zur aktuellen Ruhe trägt sicher die große Präsenz türkischer Truppen in der Provinz bei. Laut der in Großbritannien ansässigen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte hat die Türkei seit Anfang Februar über 10.000 Soldatinnen und Soldaten sowie über 5.000 Militärfahrzeuge in den nördlichen, von Rebellen kontrollierten Teilen der Provinzen Idlib und Aleppo stationiert. Sollte die Türkei im Falle eines COVID-19-Ausbruches die Truppen wieder abziehen, um die Soldatinnen und Soldaten zu schützen, könnte dies für die syrische Regierung und ihre Unterstützer ein Gelegenheitsfenster für eine neue Offensive öffnen.
Im Nordosten Syriens wiederum könnte der vermeintlich besiegte Islamische Staat eine infolge eines Infektionsausbruchs unübersichtliche Lage nutzen, um Attacken zu starten. So warnt die International Crisis Group davor, dass dschihadistische Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat oder Al-Qaida Chaos ausnutzen, um Anhänger oder Gebiete zu gewinnen.
Die COVID-19-Vorsorge in Nordwestsyrien läuft schleppend an
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Regierungen der EU und der Türkei sind sich der Situation sehr wohl bewusst. Idlib wird von der Türkei aus mit humanitärer und medizinischer Hilfe versorgt. Die EU hatte Anfang März 60 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe in Idlib zugesagt und eine Geberkonferenz für Juni angekündigt.
In Idlib arbeitet eine Taskforce gegen COVID-19. Die Organisation „Hand in Hand for Syria“, ein Partner der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Ort, ist zuständig für die Umsetzung des Pandemie-Plans der WHO im Nordwesten von Syrien. Geplant sind Isolierungszentren und Möglichkeiten zur Intensivversorgung von Erkrankten. Aktuell befinden sich die Beteiligten jedoch noch in der Planungsphase. Angesichts der allgemein schlechten medizinischen Versorgungslage wird hier jedoch höchstwahrscheinlich nur eine Minimalversorgung möglich sein, berichten Ärzte vor Ort. Die WHO hat inzwischen 300 COVID-19-Tests nach Idlib gebracht und hat die Lieferung von Schutzausrüstung für medizinisches Personal zugesagt. Freiwillige vor Ort haben unterdessen begonnen Gesichtsmasken zu nähen.
Trotz der eigenen Notlage muss die EU in Nordsyrien helfen
Angesichts der katastrophalen Zustände vor Ort, ist diese Hilfe jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn man auf die rapide Verbreitung von COVID-19, die (drohende) Überforderung der Gesundheitssysteme und die hohen Sterberaten in vielen Staaten blickt, droht jedoch auch diese Hilfe auf der Prioritätenliste nach unten zu rutschen. Gleiches ist aktuell hinsichtlich der auf den Ägäis-Inseln festsitzenden 40.000 Flüchtlinge beobachtbar, die sich kaum vor einem schwerwiegenden Ausbruchs der Infektionskrankheit schützen können. Hinzu kommt, dass das bereits heute überstrapazierte Netzwerk internationaler humanitärer Hilfsorganisationen durch die nahezu alle Krisensituationen betreffende COVID-19-Pandemie zusätzlich belastet wird.
Der von UN-Generalsekretär Antonio Guterres geforderte weltweite Waffenstillstand, um sich vereint gegen die globale Pandemie stemmen zu können, ist insbesondere auch für Syrien wichtig. COVID-19 macht aktuell eine Fortführung der Friedensverhandlungen in Genf zwischen der syrischen Regierung und Teilen der Opposition unmöglich. Die EU muss sich nun hinter die Forderung des UN Sondergesandten für Syrien Geir O. Pedersen stellen, der einen landesweiten Waffenstillstand in Syrien fordert und sich als Vermittler anbietet. Hierzu gilt es insbesondere über Druck auf die Türkei und Russland die innersyrischen Konfliktparteien zur Ruhe anzuhalten.
Gleichzeitig dürfen Deutschland und die EU aus moralischen Gründen, aber auch im Interesse der öffentlichen Gesundheit und aus ureigenen sicherheitspolitischen Erwägungen, die Menschen in Idlib und anderen Gebieten Syriens nicht ihrem Schicksal überlassen. Das von der Bundesregierung angekündigte Hilfsprogramm für Flüchtlingsregionen ist ein wichtiger, wenn auch nur ein erster Schritt.